So nah und doch so fern? Die Rolle von Purpose in Unternehmen der öffentlichen Hand
Purpose ist einer der zentralen Begriffe unserer Zeit, wenn es darum geht, unternehmerisches Handeln neu zu begreifen. Firmen stehen heutzutage vor der Herausforderung, die Frage nach ihrer Existenzgrundlage zu beantworten und den eigenen Wesenskern herauszuarbeiten. Unternehmerischer Erfolg und damit auch die Produktivität definieren sich also nicht mehr ausschließlich über betriebswirtschaftliche Parameter. Vielmehr geht es um die Frage nach dem gesellschaftlich sinnstiftenden Zweck der eigenen Arbeit.
Veränderter Konsum
Die Bedeutung von Purpose wird durch gleich mehrere Entwicklungen befördert. Zum einen ist ein geändertes Konsument*innenbewusstsein zu beobachten. Ökologische und soziale Gesichtspunkte spielen eine immer stärkere Rolle bei der Kaufentscheidung.
Zum anderen ist da der Faktor staatlicher Regulatorik. Der Staat ist zunehmend entschlossen – oder möchte dies sein – gesellschaftlichen Schieflagen durch gesetzgeberische Maßnahmen zu begegnen, die dann auch in die Geschäftsmodelle ganzer Industrien eingreifen können.
Das Klimaschutzgesetz ist hier ein ganz offensichtliches Beispiel, aber auch die Förderung von Frauen in Führungspositionen, der Kampf gegen Rassismus und der Datenschutz.
Sie werden zunehmend in Gesetzestexte gegossen, die unweigerlich auch das unternehmerische Handeln betreffen.
Firmen der Privatwirtschaft sind also gut beraten, durch die Entwicklung eines Purpose-Leitbilds eine Positionierung zu solch gesellschaftlichen Fragen zu erreichen, die früher oder später ohnehin auf sie zukommen.
Dimension für Purpose für die öffentliche Hand
Eine Frage, die bislang wenig beleuchtet zu sein scheint, ist die Dimension von Purpose für Unternehmen der öffentlichen Hand. Setzt man voraus, dass diese nicht denselben marktwirtschaftlichen Zwängen des freien Wettbewerbs ausgesetzt sind, ist die Handlungsnotwendigkeit vermeintlich geringer ausgeprägt, sich über Purpose-Faktoren am Markt differenzieren zu müssen.
Hinzu kommt, dass der gesellschaftliche Wesenskern öffentlicher Unternehmen auf der Hand zu liegen scheint. Warum sollte der Staat unternehmerisch sonst aktiv werden, wenn es nicht für das gesellschaftliche Wohl passiert?
Doch beide Argumente greifen zu kurz und limitieren die Purpose-Frage entweder auf ein unternehmerisches nice-to-have oder auf eine wie auch immer geartete gesellschaftliche Relevanz des eigenen Handelns. Eine stichhaltige und konkrete Beantwortung nach der gesellschaftlichen „license to operate“ sucht man aber oftmals vergebens.
Game-Changer Corona
Dabei ist das Thema vor allen Dingen im Lichte der Corona-Pandemie aktueller denn je. Der Staat und insbesondere seine Unternehmen der Daseinsvorsorge erleben ein nicht für möglich gehaltenes öffentliches Revival.
Während über weite Strecken der 1990er und 2000er Jahre die Rolle des Staates in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens zurückgedrängt wurde und „Privat vor Staat“ die Handlungsmaxime war, so ist die Bedeutung staatlicher Aufgabenwahrung während der Corona-Krise ganz offensichtlich zu Tage getreten. Dies gilt zuvorderst für den Gesundheits- und den Sozial-, aber auch den Mobilitätssektor.
Hier scheint es auf Seiten der Bürger*innen eine neue Offenheit für den vorsorgenden Staat zu geben – verbunden mit einer Erwartungshaltung an Unternehmen der öffentlichen Hand, insbesondere Stadtwerke, die Aufrechterhaltung der sozialen und öffentlichen Ordnung zu gewährleisten.
Doch nicht nur öffentliche Akzeptanz und Erwartungshaltung nehmen zu.
Auch der Staat selbst scheint fest entschlossen, in zunehmendem Maße als wirtschaftlich eigenständiger Akteur aufzutreten. Das haben der Wirtschaftsstabilisierungsfond und Staatsbeteiligungen an Unternehmen wie der Lufthansa, TUI und CureVac gezeigt.
Auch hat der Staat in der Krise erkannt, ganze Märkte in zukunftsrelevanten Geschäftsfeldern zu fördern, wie beispielsweise im Falle eines „Heimatmarktes“ für Wasserstoff, der gemäß der Nationalen Wasserstoffstrategie der Bundesregierung erforderlich ist.
Vor dem Hintergrund eines solchen starken Staats, der jetzt und in Zukunft noch stärker zu werden scheint, kann man festhalten: Unternehmen der öffentlichen Hand sind prädestiniert dazu, mit überschaubarem Einsatz ihr Agieren unter die handlungsleitende Maxime eines Purpose zu stellen.
Dies führt einmal mehr zur Frage, warum sie dies tun sollten. Insbesondere zwei Faktoren sind hierbei zentral.
Das Why hinter dem Why – Warum Purpose für öffentliche Unternehmen wichtig ist
Erstens: Öffentliche Organisationen sind einem kritischer werdenden Stakeholder-Umfeld ausgesetzt. Zu diesem zählen zuvorderst die Bürger*innen, die als Empfänger*innen und Nutzer*innen von öffentlichen Leistungen einen Anspruch an die reibungslose Funktionalität, digital abrufbarer und nutzerfreundlicher öffentlicher Services stellen.
Weitere Stakeholdergruppen umfassen ein Ökosystem wichtiger Multiplikator*innen, die im vorpolitischen Raum agieren. Dazu zählen Nicht-Regierungsorganisationen, Verbände, Vertreter*innen aus Wissenschaft und Forschung und die Medien.
In ihrer Summe artikulieren diese Bezugsgruppen oftmals gesellschaftlich motivierte Interessen und Ansprüche an den Staat und seine Organisationen; nicht selten in einem sozial-medial aufgeheiztem und vor allen Dingen dynamischem Klima.
Der Purpose kann hier das nötige Rüstzeug geben, diese Vielschichtigkeit komplexer Interessen- und Erwartungshaltungen aufzugreifen und in die Organisationsentwicklung eines Unternehmens zu integrieren.
Hinzu kommt ein zweiter Aspekt: der eklatante Fachkräftemangel, der insbesondere die öffentliche Hand trifft und ihre Produktivität untergräbt.
Schon jetzt sind zahlreiche Stellen unbesetzt.
Ein Trend, der sich perspektivisch fortsetzen wird. Die öffentliche Hand und ihre Unternehmen stehen natürlich in einem Wettbewerb mit privatwirtschaftlichen Firmen um die Mitarbeitenden der Zukunft. Berücksichtigt man nun, dass insbesondere jüngeren Arbeitnehmer*innen eine gesellschaftlich sinnstiftende Arbeit immer wichtiger wird, verschafft dies öffentlichen Unternehmen einen wichtigen Vorteil in ihren Recruiting-Aktivitäten. Dieser Vorteil sollte aber auch genutzt werden. Die Purpose-Entwicklung setzt genau hier an.
Konkrete Umsetzung und mehr als Kommunikation
Doch wie genau erschließt sich ein Unternehmen einen solchen Purpose? Zu aller erst braucht es eine klare Antwort, welche Lösung ein Unternehmen auf ein gesellschaftliches Problem bieten kann. Wo gibt es Möglichkeiten das betriebswirtschaftliche Handeln einer Firma mit der sozialen Verantwortung zusammen zu bringen?
Hierauf Antworten zu finden ist nicht trivial, da diese Frage weit in das Wertefundament eines Unternehmens hineinragt.
Purpose berührt sprichwörtlich seine DNA.
Und damit einher geht natürlich auch die Entwicklung einer Haltung zu den relevanten Gesellschaftsthemen, die das Marktumfeld des Unternehmens berühren.
Wenn diese generelle Ausrichtung klar ist, braucht es schließlich zentrale Kernbotschaften, die eine Firma mit ihrem Purpose an zentrale Stakeholder, intern wie extern, senden möchte. Diese Botschaften müssen für die Organisation generalisierbar sein und dürfen keine Widersprüche zur geläufigen Praxis des Unternehmens in seiner Gänze und seiner Abteilungen im Konkreten zulassen.
Dies führt über zu der Notwendigkeit, dass Purpose mitnichten auf der rein kommunikativen Ebene halt machen darf. Im Gegenteil. Purpose muss Teil der Unternehmensstrategie werden, um dann auch die Unternehmenssteuerung aller Abteilungen und ihrer Prozesse ausrichten zu können – vom Einkauf, über die Personalstrukturen oder die Vergütungssysteme bis zum Marketing. Hier bietet es sich an, Leuchtturmprojekte ins Leben zu rufen, die beispielgebend sind für die strukturelle und breite Implementierung eines solchen Leitbilds.
Purpose als Vehikel für die Umsetzung einer bundespolitischen Reformagenda
Purpose kann also insbesondere für die Unternehmen der öffentlichen Hand eine große Chance sein, ihren ganz offensichtlichen gesellschaftlichen Mehrwert zu erfassen und nutzbar zu machen.
Dieses Potenzial erschließt sich einerseits vor dem Hintergrund der dringenden Notwendigkeit, für die Akzeptanz von öffentlichen Leistungen zu werben und das Vertrauen in sie zu steigern. Andererseits, und dieser Grund scheint weitaus mehr ins Gewicht zu schlagen, stehen wir vor einer tiefgreifenden Veränderung von öffentlicher Verwaltung.
Fast alle Parteien haben sich im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 eine Erneuerung von Staat und Staatlichkeit auf die Fahnen geschrieben. Zu offensichtlich ist der Reformstau der vergangenen Jahre geworden und zu deutlich wurden die Verfehlungen beziehungsweise die Auswirkungen staatlichen Nicht-Handelns in so wegweisenden Zukunftsfeldern wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Bildung und Gesundheit.
Eine neue Bundesregierung kann, unabhängig von ihrer Zusammensetzung, ihre Reformagenda insbesondere über die Unternehmen der öffentlichen Hand in die Fläche tragen.
Die Purpose-Lehre liefert hierbei ein geeignetes Instrument, diesem Bedeutungszuwachs und einem neuen Rollenverständnis öffentlicher Unternehmen Rechnung zu tragen.
Purpose kann ein Hebel sein, um den personellen Kulturwandel, die Gewinnung neuer Mitarbeitenden, die Steigerung der Bürger*innenzufriedenheit, die Ausrichtung von Unternehmenseinheiten nach sozialen und ethischen Benchmarking-Kriterien und die Gewinnung und Mobilisierung von wichtigen Multiplikator*innen in der weiteren Stakeholder-Community zu erreichen. Und damit dem wirtschaftlichem Handeln des Staates insgesamt ein wichtiges Update ermöglichen.
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